In Afrikas einwohnerreichstem Staat ist Präsident Muhammadu Buhari für vier weitere Jahre im Amt bestätigt worden. Der Wandel, den viele junge NigerianerInnen erhofften, kam nicht.
Von Katrin Gänsler, Nigeria
Simon Obi zieht seine Wählerkarte aus der Tasche seiner Jeanshose. Die Permanent Voters Card hat die Größe einer Kreditkarte und ist in Nigeria der Ausweis für die Stimmabgabe. Der 23. Februar ist ein wichtiger Tag für den Riesen Afrikas, wie Nigeria bezeichnet wird, werden doch ein neuer Präsident sowie die Parlaments- und Senatsmitglieder gewählt.
Um den 28-jährigen Obi herum ist es laut. In Garki, einem Viertel der Hauptstadt Abuja, suchen zahlreiche Wählerinnen und Wähler ihr Wahllokal, vergleichen den Namen ihrer Karte mit dem auf dem ausgedruckten Wählerregister – und vor allem schimpfen sie: über die langen Schlangen, die Technik, die nicht funktioniert und die MitarbeiterInnen der unabhängigen, nationalen Wahlkommission (INEC), die viel zu spät zum Wahllokal kommen. „Ich bin seit sieben Uhr hier, weil die Wahl um acht Uhr beginnen sollte. Aber es geht viel zu langsam“, kritisiert Obi gegen zehn Uhr. Der hagere Mann mit dem sonst so freundlichen Lächeln zieht die Augenbrauen zusammen und schaut ärgerlich drein. „Ich habe noch immer nicht gewählt, und dass, obwohl sie vier Jahre Zeit für die Vorbereitung hatten“, sagt er später.
Einschüchterung und Gewalt. Dreieinhalb Stunden nach dem offiziellen Beginn gibt die nichtstaatliche Organisation Yiaga Africa, die im Rahmen der Initiative „Watching the Vote“ 3.900 BeobachterInnen in alle Landesteile entsandt hat und Statistiken zum Wahlverhalten erhebt, bekannt, dass um 11:30 Uhr nur etwa jedes vierte Wahllokal geöffnet hatte. Am Tag danach informiert die Plattform Situation Room, ein Zusammenschluss von mehr als 60 Organisationen der Zivilgesellschaft, dass 39 Menschen durch Gewalt ums Leben gekommen sind. Betroffen war vor allem der Südosten. Auch kam es zu zahlreichen logistischen Pannen. Vor allem aus der Wirtschaftsmetropole Lagos wird von Einschüchterungsversuchen gegenüber Wählern und Wählerinnen berichtet. Dabei ist es bereits der zweite Anlauf: Die Präsidentschaftswahl war völlig überraschend fünf Stunden vor Öffnung der Wahllokale vom 16. auf den 23. Februar verlegt worden.
Nigeria
Hauptstadt: Abuja (seit 1991, davor Lagos)
Fläche: 923.768 km2 (elfmal größer als Österreich)
EinwohnerInnen: 190 Mio. (Schätzung 2017), über 400 Volksgruppen, darunter Hausa, Yoruba, Igbo (Ibo), Fulani, Ibibio, Kanuri, Edo u.a.
Human Development Index (HDI): Rang 157 von 189 (Österreich 20)
Gini-Koeffizient*: 43 (2010–2017)
BIP pro Kopf: 1.968 US-Dollar (2017, Österreich 47.290 US-Dollar)
Regierungssystem: Präsidiale Bundesrepublik, Islamisches Recht (Scharia) in 12 nördlichen Bundesstaaten.
*Der Gini-Koeffizient misst die Einkommensungleichheit von Individuen und Haushalten. Ein Wert von 0 bedeutet absolute Gleichheit, ein Wert von 100 absolute Ungleichheit.
In Nigeria, wo mehr als 190 Millionen Menschen leben, hatte der Urnengang schon in den Monaten zuvor alles überschattet: die zunehmenden Angriffe der Terrormiliz Boko Haram im Nordosten, die Überfälle auf entlegene Dörfer in den Bundesstaaten Zamfara und Kaduna, der Kampf zwischen FarmerInnen und ViehhalterInnen um knapper werdendes Land in Zentralnigeria sowie die alltäglichen Herausforderungen durch mangelnde Infrastruktur bei massiv wachsender Bevölkerung.
Doch anstatt diese Herausforderungen zu thematisieren, pries Amtsinhaber Muhammadu Buhari (76) die Erfolge seiner vierjährigen Amtszeit, während der bekannteste Oppositionspolitiker, Atiku Abubakar (72), Millionen Jobs versprach.
Parallel dazu betonten INEC-VertreterInnen gerne, wie gut die Vorbereitungen laufen und wie groß das Interesse sei. Tatsächlich hatten sich mit mehr als 84 Millionen so viele Menschen wie nie zuvor ins Wählerregister eintragen lassen. Gut die Hälfte von ihnen ist jünger als 36 Jahre. Es sollte die Wahl der Jungen werde, sind doch im Land mehr als 62 Prozent der EinwohnerInnen jünger als 25. Das Durchschnittsalter liegt bei 18,3 Jahren.
Junge in die Politik! Für mehr Teilhabe der Jungen an der Politik hat ein Jahr zuvor auch Simon Obi demonstriert. Mit hunderten anderen Schülerinnen, Studenten und Berufseinsteigerinnen stand er Mitte März 2018 vor dem Unity Fountain, dem Brunnen der Einheit in Abuja, wo Kundgebungen üblicherweise stattfinden. Wie die anderen auch trug er ein weißes T-Shirt mit einem Smiley und dem Schriftzug „I support #NotTooYoungToRun bill“ – „Ich unterstütze das Gesetz zur Senkung des passiven Wahlalters“.
Was sperrig klingt, sollte dafür sorgen, dass sich mehr junge Menschen um politische Ämter bewerben. „Wenn ich das Wahlrecht habe, muss ich auch das Recht haben, mich als Kandidat aufstellen zu lassen. Dafür sprechen wir mit einer Stimme.“
Damals klang Obi begeistert und aufgeregt. Die Demonstration schrieb Geschichte. Es gelang der Bewegung tatsächlich, das passive Wahlalter bei Präsidentschaftswahlen von 40 auf 35 Jahre zu senken. Gelungen ist ihr aber noch etwas anderes: Junge Menschen haben landesweit unabhängig von Religion und ethnischer Zugehörigkeit für ein gemeinsames Ziel gekämpft. In einem schwachen und gespaltenen Staat sind das starke Identifikationsfaktoren.
Neid statt Solidarität. Ein Jahr später ist von dieser Einheit nichts mehr zu spüren. In einem fünfstöckigen Gebäude, das an einer Schnellstraße am Rande des Zentrums von Abuja liegt, sitzt der 35-jährige Chike Ukaegbu hinter einem leeren Schreibtisch. Auch der Rest des Einraum-Büros ist kaum eingerichtet. Von hier aus haben er und sein Bruder Wahlkampf betrieben: ohne Wahlplakate und einen großen Unterstützerkreis. Ukaegbu, der ohne #NotTooYoungToRun nicht hätte antreten dürfen, machte vergangenes Jahr in internationalen Medien als „jüngster Präsidentschaftskandidat Nigerias“ Schlagzeilen, wurde in Nigeria jedoch kaum wahrgenommen.
Eine knappe Woche vor der Wahl rechnet der Geschäftsmann, der in den USA unter anderem ein Startup-Unternehmen gegründet hat, mit der Jugend ab. Anstelle von Solidarität habe er Neid-Debatten erlebt. „Wir haben immer die Alten verantwortlich gemacht und die korrupten Politiker, aber nein. Wir sind knapp 43 Millionen Wähler. Wenn wir uns auf den Wandel einigen wollen, dann tun wir das auch“, sagt Ukaegbu. Doch eingetreten ist dieser Wandel nicht.
Viele Junge sind trotz allem zu Hause geblieben anstatt wählen zu gehen. Trotz zahlreicher voller Wahllokale mancherorts war die Beteiligung landesweit erschreckend schwach – mit 35,6 Prozent hat sie ein historisches Tief erreicht.
Und neue Generationen in der aktiven Rolle? Fest steht: In Nigeria ist es extrem schwer, einen Kandidaten bzw. eine Kandidatin aufzubauen. Neben einem weitverzweigten Netzwerk ist viel Geld für den Wahlkampf nötig. Bei der größten Oppositionspartei, der People's Democratic Party (PDP), kostete alleine die Bewerbung für die interne Vorwahl um die Präsidentschaftskandidatur umgerechnet mehr als 29.500 Euro. Die Regierungspartei All Progressives Congress (APC) verlangte von den KandidatInnen für die Gouverneursämter – diese Wahl fand zwei Wochen später statt – sogar knapp 55.500 Euro.
Es ist ein Einsatz, der sich lohnen muss. In Nigeria gilt Politik als ein lukratives Geschäft. BewerberInnen, die außerhalb der großen Parteien antreten, haben zudem viel zu wenig UnterstützerInnen. Chancen hat schließlich nur, wer im ganzen Land sichtbar ist.
Dritte Option. Neben dem schließlich wiedergewählten Buhari (APC) kämpfte Atiku Abubakar, der bereits von 1999 bis 2007 Vizepräsident war, mit aller Macht um das höchste Staatsamt. Eine dritte, möglicherweise starke Kandidatin oder einen dritten Kandidaten verhinderte die völlig zersplitterte Opposition.
Für eine Koalition warb vergangenes Jahr zwar noch Obiageli (Oby) Ezekwesili, die Mitbegründerin von #BringBackOurGirls, jener Initiative, die die Befreiung der 276 Mädchen von Chibok forderte. Sie waren 2014 von bewaffneten Männern der Boko Haram aus den Schlafsälen ihrer Schule verschleppt worden.
Doch das Werben um eine Koalition durch Ezekwesili blieb ohne Erfolg. Ein Zusammenschluss bedeutet schließlich auch den Verzicht auf das mögliche Spitzenamt. INEC ließ schließlich 73 BewerberInnen zu.
In Abuja kennt Politikwissenschaftler Hussaini Abdu, Landesdirektor von Plan International und Vorsitzender von „Watching the Vote“, die Forderungen nach jüngeren PolitikerInnen in Führungspositionen. „Wir dürfen eines nicht vergessen: Politik ist kein Wohlfahrtsverband. Der Kampf um Macht ist kein Fußballspiel.“
Treffend hat dieses Machtspiel vor zwei Jahren Ayisha Osori beschrieben, die sich dafür einsetzte, die Anzahl der Frauen in der nigerianischen Politik zu erhöhen. Osori wollte für die PDP Parlamentskandidatin in Abuja werden. Ihre Erfahrungen hat sie in einer Anleitung für angehende Politikerinnen niedergeschrieben. Im Buch „Love does not win elections“ berichtet sie von nächtlichen Treffen, der ständigen Suche nach Kontakten zu erfolgreichen und einflussreichen PolitikerInnen und enormen Geldsummen, die stets in verschiedenfarbigen Umschlägen verteilt werden.
Obwohl das kosten- und zeitintensiv sowie nervenaufreibend ist, hält Abdu das für die einzige Möglichkeit, die Politik zu verändern. „Unsere Arbeit in der Zivilgesellschaft ist zwar wichtig. Aber nur wer Mitglied einer Partei ist, kann auch als Kandidat aufgestellt werden.“ Wichtig sei auch, nicht erst im Jahr der Wahl politisch aktiv zu werden. „Das muss jetzt geschehen“, sagt Abdu in Hinblick auf die Wahl 2023.
Ungelöste Sicherheitsfrage. In seinem Programm „Next Level“ hat Buhari, der 15,19 Millionen WählerInnenstimmen erhielt, angekündigt, bis zur nächsten Wahl in vier Jahren den Fokus auf Arbeitsplätze für junge Menschen zu legen. N-Power heißt das Programm, dass HochschulabsolventInnen ein bezahltes Praktikum und somit den Einstieg ins Berufsleben verspricht.
Als Sektor ist die Landwirtschaft besonders wichtig. Buhari hat in seiner ersten Amtszeit betont, dass sich Nigeria selbst versorgen könne. Außerdem lassen sich in dem Bereich relativ schnell – wenn auch nicht nachhaltig – Stellen schaffen.
Geplant sind außerdem Infrastrukturmaßnahmen wie die Fertigstellung der Eisenbahnlinie von Lagos im Süden nach Kano im Norden und der Ausbau der Stromversorgung sowie besserer Zugang zu Kapital für UnternehmerInnen.
Von Sicherheit ist jedoch keine Rede. Dabei sind in den vergangenen Wochen hunderte Menschen durch Angriffe bewaffneter Banden gestorben. Rund um den Tschadsee leben weiterhin knapp 2,5 Millionen Binnenflüchtlinge, wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) Mitte März mitteilte, davon gut zwei Millionen in Nigeria.
Und auch von Korruptionsbekämpfung wird nicht mehr gesprochen, obwohl diese vor vier Jahren noch Buharis wichtigstes Ziel war. Laut Transparency International belegt Nigeria im Korruptionsindex Platz 144 von 180. 2015 war es noch Platz 136. Heute wird von der Regierung mitunter sogar argumentiert, dass sich Korruption nicht bekämpfen lasse. Stattdessen müsse man lernen, mit ihr zu leben.
Ein paar Wochen nach der Wahl zieht Obi, der politische Aktivist von einst, in Abuja sein persönliches Fazit: „Das ist alles enttäuschend.“ Eine Gesetzesänderung reicht offenbar nicht aus, um ein ganzes System zu erneuern.
Katrin Gänsler ist Korrespondentin mehrerer deutschsprachiger Medien in Westafrika und lebt in Cotonou/Benin und Abuja/Nigeria.
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